Michael Bruchner

Vor dem Sprung

Vor dem
Sprung

Part One

Ben nahm die Scheibe vom Plattenteller, warf sie neben die Hülle auf den Boden und spielte was Neues an. Es waren die Doors.
Tom saß auf dem Teppich und sah auf den verstreuten Haufen von Platten, Hüllen, Büchern, der sich über den Fußboden hin bis fast zur Türe erstreckte.
„Morgen fahre ich noch mal bei den Second-Hand-Läden vorbei“, meinte er und ging die Anzeigenliste für ihr gemeinsames Zeitungsprojekt durch, „dann müßten wir die Ausgabe voll haben.“
Ben stand auf, warf die Doors auf den Boden, legte Janis Joplin auf.
„Die Nummer wird gut.“
Er nahm den Tabak vom Schreibtisch und holte die Papers raus. Dann legte er ihn wieder weg, nahm sich doch noch eine Ernte 23 aus der Schachtel.
Das Telefon klingelte.
„Katja? Ja, nein, du störst nicht.“ Er zündete sich die Zigarette an.
„Tom ist gerade da ... heute Abend, ich weiß noch nicht. Doch, natürlich ...
Hast du den Wagen?“
Tom stand auf, legte die Anzeigenmappen auf den Boden und stellte sich vor die Bücherwand.
'Haben oder Sein' stand da, 'Die philosophische Hintertreppe', viel Existenzialismus, vor allem Camus, daneben die ganzen Schullektüren und viele politische Bücher, Che-Guevara-Biographie, etc.
„Natürlich will ich dich heute Abend sehen.“ Ben blies wütend den Zigarettenrauch an die Decke.
„Ja. Komm doch einfach vorbei. Nein, wir reden nicht nur von der Zeitung. Also, bis heute Abend dann.“

Katja horchte dem Klicken in der Leitung und dem Freizeichen nach. Dann ließ sie den Hörer auf die Gabel gleiten. Im Hintergrund bauten ihre kleinen Schwestern mit Legosteinen.
„Fährst du wieder weg?“ fragte Lucia, die Ältere.
Katja sah sie an.
„Nein, nein, ist schon gut. Spielt ihr nur mal.“ Sie ging an den beiden vorbei und die Treppe hoch und legte sich aufs Bett. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Lucia wieder in der Türe stand.
„Du rauchst ja schon wieder.“
„Mensch, jetzt laßt mich halt in Frieden.“
„Aber Anna hat schon wieder die Burg kaputtgemacht.“
„Lucia, bitte!“
Die Kleine knallte die Türe und lief zurück ins Wohnzimmer.

Tom nahm sich einen Lyrikband aus dem Regal. „Kann ich mir den mal ausleihen? Ich gehe noch in die Rose. Und wie ich Thorsten kenne, ist der sicher wieder zu spät.“
Ben strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Thorsten kommt immer zu spät. Der kann gar nicht anders.“
„Ja, also wir sehen uns dann morgen. Grüß die Katja.“
„Ja, ja.“
Die Rose war eine kleine Gyroskneipe am Romanplatz und Treffpunkt der Gruppe, wenn sie nicht gerade bei Ben im Zimmer saßen.

Thorsten schaute noch schnell bei Thomas vorbei, aber der lag unter dem alten 316i und schweißte die Bodenbleche. Tief in seinem Herzen suchte er nach einer Kombination von Woodstock und Nürburgring. Es war sein siebter BMW, er hatte ihn für ein paar hundert Mark vom Schrottplatz geholt. Ein TÜV war mindestens noch drin.
Von der Straße aus sah man von ihm nur seine Schuhe und die Jeans. Ein Bild wie Marlon Brando. Thorsten fuhr direkt zur Rose weiter.

Tom wartete bereits eine halbe Stunde, als die Tür ging und Thorsten die zwei Stufen hinauf und an der Theke vorbei zum Stammtisch kam.
„Grüß dich, Thorsten.“
„Hallo.“ Er winkte dem Ober. „Einen Kaffee und ein Pittabrot.“
„Ich war eben noch bei Ben. Wir haben noch mal über die neue Ausgabe gesprochen. Ich glaube, die Finanzierung steht jetzt.“
„Ich hab auch noch 'ne halbe Seite geholt. Vom Nachtcafé. Der Typ da war ein ziemliches Arsch. Hat sich das Heft gar nicht angeschaut. Aber die zahlen wenigstens. Nicht so wie Ben's ewiges Dritte-Welt-Zeugs.“
Der Ober brachte den Kaffee und das Brot. Tom brach sich ein Stück ab. Die Kneipe war fast leer.
„Kennst du das?“ fragteThorsten. „Immer wenn ich einen Kaffee trinke, hätte ich gerne ein Spezi und umgekehrt.“
„Man sollte ein Getränk erfinden, das die beiden kombiniert. Hey, wir könnten damit 'ne Menge Kohle machen.“
Thorsten nickte. „Am besten wir machen das gleich in New York. Dann müssen wir da nicht in den Fabriken arbeiten gehen oder so.“
Tom sah auf Thorsten´s zweireihiges Sakko. Der Plan stand schon lange: Gleich nach dem Abi würden sie nach New York gehen, eine Wohnung und Arbeit suchen, etc. Man mußte nur bis 27 dableiben, weil man sonst wegen Fahnenflucht in den Knast kam.

Tom pulte im heißen Kerzenwachs, das, von der Flamme auf die Reise geschickt, über die alte Weinflasche rann. Die roten, weißen, blauen Ströme, die sich über den Flaschenhals ergossen hatten, waren allesamt erstarrte Träume, Gedanken, Redereien. Die Rose war der Ort, an dem Pläne gemacht wurden, wo man auch stundenlang sitzen konnte ohne zu sprechen. Hier wurden Beziehungen diskutiert. Bei Kaffee oder Spezi oder Vino wurde der Grund allen Seins gesucht, während im Hintergrund immer dieselben Sirtakis über Band liefen. Die Rose war der Ort, an dem man die Zeit beobachten konnte, wie sie sich dem Kerzenwachs gleich verhärtete und wuchs, ohne zu vergehen. Tom rieb sich das rote Wachshütchen vom Zeigefinger. 1991.
„Was machen wir heute Abend noch? Gehen wir zu dir?“
„Nein“, sagte Thorsten, „du weißt doch, wie eng es bei mir ist. Außerdem gehen meine Eltern jetzt dann bald schlafen.“
„Weiß ich ja nicht“, antwortete Tom. „Ich war noch nicht bei dir.“
Schweigen. Der Blick in die Kerze.

Thorsten aß den Rest von seinem Pitta, als sich die Türe erneut öffnete. Es schien, als würde für einen Moment an allen Tischen das Gespräch verstummen. Julia kam an den Tisch. Thorsten´s Blick blieb an ihrer großen silbernen Gürtelschnalle haften, tastete dann über das geblümte Top und die Halskette hinauf zu den scharfgeschminkten Lippen und über die Augen seitlich den roten Haaren hinunter. „Niemand kann sich so schönmachen wie du, Julia“, brachte er schließlich seine Gedanken auf den Punkt.
Julia, die ihre Wirkung geduldig abgewartet hatte, zog triumphierend an ihrer Zigarette. „Hier seid ihr also, ihr zwei. Wir gehen heute Abend noch in den Park. So gegen zehn vor dem Schloß.“
Tom bot ihr einen Stuhl an: „Setz dich doch.“
„Nein, ich muß noch mal zu Nina. Wir sehen uns dann.“
Die beiden sahen ihr nach, wie sie an der Theke vorbei die Stufen hinab und aus der Tür glitt.
Thorsten grinste: „Die Julia kriegt immer, was sie will.“
„Na, wir haben ja noch eine gute Stunde bis dahin.“
Tom bestellte sich noch einen Rotwein.  

Part 2

„Ich werde ja wohl auch mal müde sein dürfen.“ Katjas Vater sprach unter den Tisch, geistesabwesend. „Gib mir mal die Butter rüber. Den ganzen Tag habe ich Stress.“
Katja sah ihre Mutter an. Lucia kniete sich auf ihren Stuhl, streckte sich quer über den Tisch und stieß dabei die Milch um. Tischtuch, Teller, Brotkorb, alles schwamm und triefte.
„Mami, tut mir leid“, stammelte die Kleine.
Die Mutter beobachtete, wie sich die weiße Flüssigkeit im Zeitlupentempo ihren Weg über den Kochschinken bahnte, um dann unter der Lyoner durch zwischen die Salamischeiben zu kriechen. Da konnte sie sich nicht mehr halten, hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte in die plötzlich entstandene Stille.
Katja schloß die Augen, holte tief Luft und stand auf. Wortlos ging sie aus dem Eßzimmer, zog sich Schuhe an und griff den Autoschlüssel. Sie stellte das Radio auf volle Lautstärke und schoß über den Mittleren Ring.

Nina hatte sich ein Bad eingelassen. Das große weißgekachelte Badezimmer war das einzige, was sie vermissen würde, wenn sie im Herbst nicht mehr zuhause wohnte. Mit dem rechten Fuß regulierte sie den Zustrom des heißen Wassers. Sie hob eine Handvoll Schaum aus dem Wasser und zerdrückte ihn an ihrem Schlüsselbein. Dann ließ sie sich hineingleiten und tauchte den Kopf unter. Es war ganz still. Nur das Rutschen ihrer Haut auf dem Emaille der Wanne war zu hören und das Zerplatzen der Schaumbläschen an der Wasseroberfläche. Nina tauchte auf und griff mit geschlossenen Augen nach dem Shampooflakon an der Wasseroberfläche. Sie spielte einen Moment lang mit der kalten zähen Flüssigkeit zwischen ihren Handflächen, dann massierte sie sich das Shampoo in die Kopfhaut. Beim Auswaschen schmiegte sich das Haar an ihren Körper wie ein nasser Stoff. Sie strich sich die Augen frei und griff nach dem Handtuch. In dem großenWandspiegel gegenüber sah sie zu, wie ihr Körper aus der Wanne aufstieg. Das Wasser rauschte von ihr ab und sie wartete, bis die letzten Rinnsale aus ihren Haaren über den Rücken und die Beine zurück in die Wanne geflossen waren. Dann stieg sie behutsam auf den Läufer und rieb sich trocken. Das weiße Handtuch um die Schultern gelegt wiegte sie den Kopf im Luftstrom des Föns. Sorgfältig steckte sie ihr Haar auf, band sich das Handtuch um und verließ das Badezimmer.

Als Nina in ihr Zimmer kam, saß Julia auf dem Fußboden und studierte die Plattensammlung. Sie hatte eine Vaya Con Dios-Scheibe aufgelegt und klopfte mit dem Fuß zu dem schwermütigen Blues der Sängerin.
„Oh, hallo“, sagte Nina. „Ich habe dich gar nicht kommen gehört.“
„Deine Ma hat mich reingelassen.“ Julia blickt auf. „Kommst du mit heut Abend? Wir wollen alle zum Park, den Sommer feiern.“
Nina ließ das Handtuch fallen und stand nackt vor dem Kleiderschrank. „Wer ist denn 'wir'?“
„Na, Thorsten, Ben, Thomas und so.“
„Ich weiß noch nicht. Muß mal sehen. Wann trefft ihr euch denn?“ Sie hielt prüfend zwei Slips in der Hand.
„Um halb elf vor dem Schloß.“ Nina entschied sich für den linken und zog ihn über. „Ich muß noch mal mit Ralf telefonieren.“
Julia betrachtete das Plattencover. Dann richtete sie sich auf. „Ja, ich muß dann weiter. Wir sehen uns heute Abend.“
„Tschüß, Julia.“
Als ihre Freundin gegangen war, zog Nina sich fertig an. Dann legte sie eine andere Platte auf, setzte sich aufs Bett und las weiter in „Anna Karenina“, die Julia ihr empfohlen hatte.

Thorsten hatte eine Rose-Idee: „Komm, wir gehen zu Thomas und bauen uns Fackeln für heute Abend.“
Tom rief den Ober, sie zahlten. Auf den 500 Metern, die sie die Hauptstraße benutzten, schaltete Thorsten viermal vom dritten in den vierten Gang und zurück. Als er mit quietschenden Reifen bei Thomas parkte, war die 'tolle Kiste' sichtlich außer Atem. Der rote Panda sah aus, als würde er jeden Moment auseinanderfallen. Tom sagte das.
„Ach was“, gab Thorsten zurück, „das muß er aushalten.“
Thomas war gerade dabei, Tomaten mit Mozzarella anzusetzen. Für die Idee mit den Fackeln war er sofort zu haben. Er brachte zwei alte Jeans und einen Teppichschneider. In der Garage lagen ein paar Holzlatten und Kerzen herum. Während Thomas die Jeans in lange schmale Streifen schnitt, fing Tom an, das Wachs zum Schmelzen zu bringen. Thorsten sah eine alte Pflanzenbewässerungsspritze in der Ecke stehen. „Braucht ihr die noch?“ fragte er.
Thomas grinste. „Nee, kannst du haben.“
Thorsten suchte sich einen Draht, wickelte ihn um den Kopf der Spritze. Das eine Ende bog er in einem Halbkreis nach außen und rollte ein Stückchen Stoff darüber.

Die Konstruktion sah aus wie das Mikrophon an einem Pilotenhelm. Dann holte er den Reservekanister aus seinem Wagen und füllte den grünen Plastikbauch des Geräts mit Benzin.
„Paß auf, daß du nicht so viel auf den Boden verschüttest“, rief Thomas über die Schulter.
„Halt das mal“, sagte er zu Tom und drückte ihm die Holzlatte in die Hand. Er wand die Stoffetzen möglichst eng an das Holz, alle zwei, drei Windungen goß er ein wenig Wachs dazu, bis sich am Ende ein fester homogener Klumpen gebildet hatte. Die beiden fabrizierten auf diese Art vier Fackeln, während Thorsten im Garten 'Krieg der Sterne' spielte. Er hatte das Stoffstückchen an dem Draht angezündet und wenn er die Spritze betätigte, jagten die Benzinpartikelchen durch die Flamme, entzündeten sich und ergaben eine fast drei Meter lange Stichflamme. Mit seinem Flammenschwert bewaffnet sprang Thorsten zwischen den Bäumen durch und feuerte, was das Zeug hielt. Der ganze Garten roch schon wie eine Tankstelle, als Thorsten, wie ein Kobold herumhüpfend, seine Lieblingsstelle aus 'Macbeth' zitierte:
„Life's but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more: it is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.“

Katja stand einen Moment lang auf dem Bürgersteig und sah in das offene Fenster von Ben´s Zimmer. Hinter ihr fuhr ein Wagen vorbei. Katja ging durch das Gartentor, klingelte. Sie hörte Ben die Treppe herunterpoltern. Er öffnete. Sie fiel ihm in die Arme. Ben wußte nicht genau, was er jetzt sagen sollte. Er hörte ihren Atem an seiner Schulter. Dann löste er sich und schloß die Tür. Er fühlte sich unsicher, es war, wie wenn er selbst jede seiner Bewegungen beobachtete.
„Hast du Hunger?“ fragte er sie. „Wir haben gerade erst gegessen.“
Katja schüttelte den Kopf und ging in sein Zimmer. „Wie geht's mit eurer Zeitung?“ fragte sie. Verwundert sah er sie an.
„Soweit steht alles. Tom war vorhin noch hier. Morgen treffen wir uns nochmal und schreiben den Artikel über das Asylbewerberheim.“
Katja´s Augen tasteten durch das Zimmer. Sie sah die Schachtel auf dem Schreibtisch liegen, stand auf, nestelte sich eine Zigarette heraus. Ben gab ihr Feuer. Sie saßen nebeneinander auf der Couch. Oben hörte man Ben´s Eltern sprechen, genauer gesagt, seinen Vater, der immer etwas zu laut redete. Katja mochte ihn nicht.
Es klingelte.

„Grüß dich, Julia“, hörte sie Ben sagen.
„Störe ich?“ fragte sie.
„Ach was, komm rein.“
„Hallo, Katja.“
„Hallo.“
„Wir treffen uns alle in einer Stunde vor dem Schloß. Ihr kommt doch, oder?“ Katja warf Ben einen flehenden Blick zu. Der nahm ihn nicht wahr.
„Ja, klar. Habt ihr Musik?“
„Im Auto. Thomas hat seinen neuen Wagen fast fertig.“
Ben grinste. „Der Karosseriebauer.“
Dann, zu Julia: „Trinkst du einen Kaffee mit?“
„Ja, gerne.“ Julia setzte sich.
„Ich nehm auch eine Tasse“, rief Katja.
„Ich glaub, bei meinen Eltern oben ist noch was.“ Ben stand auf.
Wieder hörte Katja seine Schritte auf der Treppe. Sie rauchte stumm und vermied es, Julia anzusehen.

„Nehmt ihr die Fackeln mit?“ fragte Thomas. „Ich fahr noch mal zur Tankstelle, Bier holen.“
„Aber kein Paulaner.“ Thorsten packte den Reservekanister. Tom sammelte die Fackeln ein und ging hinterher.
„Bis gleich dann.“ Thomas drehte den Schlüssel im Zündschloß. Der Wagen kam schon beim ersten Mal. Thomas glitt rückwärts aus der Einfahrt und legte genüßlich den Vorwärtsgang ein. Er freute sich auf das Gesicht des Tankwarts, wenn er schon wieder mit einem anderen Wagen ankäme. Als er den Kasten Augustiner Edelstoff in den Kofferraum gehievt hatte und auf die Hauptstraße rollte, schoß es ihm durch den Kopf: Tibet. Am besten ich geh nach Tibet.

Nach und nach kamen die Wagen die Auffahrtsallee hinaufgerollt und fuhren an der Schranke vorbei auf den großen Parkplatz vor der Fassade des Nymphenburger Schlosses. Sie bildeten einen Halbkreis, wie die amerikanischen Siedler mit ihren Planwagen, wenn sie nachts campierten, auf dem Weg durch die Indianersteppen.Thomas lud den Kasten aus und stellte ihn in die Mitte. Als letzte parkte Nina ihren weißen Mercedes auf dem Kiesplatz. Julia flüsterte Tom ins Ohr:
„Das ist dein erster Sommer mit uns.“

Part 3

Der Abend war also gekommen, doch in der großen Erwartung wußte niemand so recht, wie er ihn nun beginnen sollte. Thomas zog erstmal ab, niemand wußte, wohin. Ringsum wurden die ersten Bierflaschen geköpft, als sich Toms und Julias Blicke trafen. Tom schlug vor, einen kleinen Spaziergang zu machen. Als sie den Lärm der Gruppe ein Stück weit hinter sich gelassen hatten, wagte Tom, seinen Arm um Julias Schulter zu legen. Sie lachte hell und schob ihre Finger in seine hintere Hosentasche. „Schön, daß du bei uns bist“, sagte sie, ein Satz, den er nicht recht einordnen konnte. „Ja, ich freu mich auch“, antwortete er schließlich.
Sie gingen im Gleichschritt. Ihre Stiefel hatten einen festen Tritt.
„Wie war's denn in der Rose?“ fragte sie.
„Oh, da kommen wir immer auf die besten Ideen. Thorsten und ich gehen nach dem Abi nach New York.“
„Thorsten. Nach New York, sagst du?“ Sie sprach in einem seltsamen Ton, der keine weiteren Worte zuließ.
Da sahen sie Thomas, der auf eine Brunnenfigur geklettert war und in die Ferne sah. Der Anblick faszinierte Tom, stieß ihn aber gleichzeitig ab. Aus Thomas wurde er nicht schlau.
Inzwischen waren sie weit genug vom Schloß entfernt. Man konnte die Stimmen der anderen nicht mehr hören. Tom dachte einen Moment lang daran, wie es wohl wäre, jetzt mit Julia in eine der schneckenartigen Hecken zu schlüpfen. Er schauderte. Sie gingen noch ein paar Schritte weiter, blieben dann stehen. Julia erwiderte seinen Kuß, brach aber plötzlich ab und sagte: „Komm, gehen wir zurück zu den anderen.“

„Wo wart ihr denn so lange?“ fragte Ben.
„Spazieren“, antwortete Julia schnell und sah zu Thorsten hinüber, der mit Nina im Wagen saß.
Katja mühte sich, mit dem Feuerzeug eine Bierflasche zu öffnen.
„Gib mal her.“ Ben nahm ihr die Flasche aus der Hand, setzte den Kronkorken an einem Vorsprung der Schloßmauer an und schlug mit der anderen Hand flach darauf. Der Flaschenhals brach ab.
„Scheiße.“ Ben warf die Flasche hin. Bei der zweiten Flasche klappte es. Er gab sie Katja.
„Was ist denn hier los?“ rief Thomas quer über den Parkplatz. Er kam näher, deutete auf Ninas Wagen. „Was ist mit den beiden?“

Dann legte er in seinem Wagen eine Kassette ein und öffnete den Kofferraum. Guns 'n' Roses schallten gegen die Schloßmauer
„Nothing lasts for ever, even cold november rain“ sang er mit und sah dabei Katja an.
Sie setzte sich auf die Treppe. Die Musik zog auch Thorsten und Nina aus ihrem Wagen.
„Komm, die Fackeln“, sagte Thorsten zu Tom, und die beiden tränkten die Fackelköpfe mit Benzin und gingen die Treppe hinauf zur Empore. Thorsten legte sie wie Feuerwerkskörper auf die Brüstung.
„Again and again and again and again and agai-in“, kam es unten aus dem Lautsprecher.
Tom nahm sich die größte Fackel und ließ sich Feuer geben. Er stieg auf die Brüstung und lauschte dem düsteren Rauschen der Flamme. Thorsten folgte ihm. Ernst schwangen sie die Feuerstäbe gegen den Nachthimmel.

Thomas saß in seinem geöffneten Kofferraum und kramte Tabak und Papers aus der Hemdtasche. Er klebte sechs Blättchen aneinander, füllte Tabak darauf. Dann erhitzte er den kleinen braunen Klumpen mit dem Feuerzeug und rieb einige Krümelchen in den Tabak. Aus dem Lautsprecher dröhnten Nirvana und Alice in Chains. Ben begann, die Bierflasche in der Hand, zu tanzen, wobei er sein Hemd völlig bespritzte. Die Haare flogen ihm um die Ohren. Katja betrachtete ihn, saß auf der Treppe und rauchte die letzte Ernte 23.
Ben setzte sich zu ihr. Sie schob ihre Hand in sein Hemd. Er war völlig naßgeschwitzt und roch nach Bier. Eigentlich wollte sie über so viel mit ihm reden. Sein Atem ging heftig, wie der eines gefangenen Tieres. Er hatte die Augen geschlossen und lehnte sich gegen sie. Sie spürte die kalte harte Mauer in ihrem Rücken. Nein, sie konnte ihm nichts übelnehmen. Warum, das konnte sie sich selbst nicht erklären. Sein Gesicht war fahl, er war immer noch naß. Sie fürchtete, daß er sich erkältete, und drückte ihn fester an sich. Die Musik war jetzt ruhiger geworden. Die ganze Szenerie erinnerte sie an einen Film, aber sie konnte sich nicht an den Titel erinnern. Über sich auf der Empore hörte sie die Stimmen von Tom und Thomas, leise.
Julia saß auf dem Bierkasten und schien auf irgend etwas zu warten. Der Kasten war fast leer, ein paar Scherben lagen herum. Katja wäre jetzt gerne eingeschlafen, dafür war es Ben, dessen Kopf auf ihren Schultern ruhte.

Nina hatte ihre Schuhe abgestreift und spielte mit den Zehen an Thomas' Hosennaht. Er drehte seine Friedenspfeife zwischen den Fingern. Das Teil war fest gepackt und an den Enden standen die obligatorischen Zwirbel. Er holte sein Feuerzeug. „Willst du auch?“ fragte er Nina. Sie schüttelte den Kopf und ihre Zehen tasteten an seiner Hose empor.

„Das da hinten muß der Friedensengel sein.“ Tom deutete in die Flut aus Lichtern und Häusern in die Nacht.
„Die Statue of Liberty hat eine Fackel“, meinte Thorsten.
„New York“, Tom senkte seine Stimme. „Das ist der Hammer. Wenn du mit dem Zug reinkommst, Grand Central, dieser Bahnhof. Ganze Familien leben da. Die erkennen sofort jeden Touristen und fragen um Geld. Geschäftsleute mit Anzügen und Turnschuhen drunter. Und überall diese Hektik. Und dann kommst du raus, und aus den Gullis steigt der Dampf auf, und an allen Ecken stehen die Schwarzen und verkaufen Cola und'Pretzels'.“ Thorsten schwieg. „Und die Buchläden in den Campusvierteln. In Spanish Harlem gibt es welche, mit Büchern vom Boden bis zur Decke, alle gebraucht, zerlesen, für 49c und so ...“

Julia erhob sich von dem Bierkasten und ging zu Ben und Katja.
„Du, ich glaube, Ben hat noch Wein im Kofferraum.“ Katja griff in seine Hemdtasche und reichte ihr den Schlüsselbund. Julia fand eine Bottle und Thomas, ihr den Korken hineinzudrücken. Sie nahm einen langen Schluck, dann stand sie da mit der Flasche. Plötzlich fühlte sie sich sehr allein.
„Darf ich das Teil haben?“ Sie deutete auf den Joint. Thomas grinste.
„Aber nur, wenn du mir dafür den Wein daläßt.“
Julia ging an Ben und Katja vorbei die Treppe hinauf.

Nina richtete sich im Kofferraum auf.
„Ich fahre jetzt. Ich bin ein bißchen müde.“ Sie setzte ihren Fuß auf den Boden und tat einen hellen Schrei. Sie war in eine Scherbe getreten.
„Oh, Scheiße.“ Sie blickte auf ihren Fuß. Aus der Mitte der Sohle kamen dicke dunkle Tropfen. Die Wunde sah aus wie ein weißer Mund.
„Nicht anfassen“, hörte sie Thomas hinter sich sagen, doch ihre Finger konnten nicht anders als den blutenden Schnitt auseinander- und zusammenzudrücken. Sie spürte keinen Schmerz.
„Mach schon“, murrte sie, als Thomas eine Mullbinde aus dem Verbandskissen holte und sich vor sie auf den Boden kniete.
Er wand die Mullbinde möglichst eng um den Fuß. Alle zwei bis drei Windungen drückte er fest dagegen, bis sich am Ende ein homogener Verband gebildet hatte. Er mußte an die Fackel denken. Wortlos schlupfte Nina in ihre Schuhe und humpelte zu ihrem Wagen. Ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden fuhr sie davon. Thomas legte sich wieder in den Kofferraum und begann mit der Weinflasche zu sprechen.

Part 4

Julia stand auf der Empore. Der süßliche Haschgeruch zog in ihre Nase. Sie sah Ninas Wagen nach, wie er die Auffahrtsallee hinunterfuhr und auf die Hauptstraße schwenkte. Unter ihr rüttelte Katja Ben wach. Sicher wollte sie ihn nach Hause fahren. Die Nacht brach auseinander.

Tom hatte Julia beobachtet, wie sie die Treppe heraufkam. Er hätte an diesem Abend gerne mehr von ihr gehabt. Nun kam sie zu ihnen. Sie reichte ihm den Joint.
Er nahm mehrere tiefe Züge und hielt den Rauch. Er fühlte sich wie in einer weichen Hand nach oben gehoben. Er hörte sein Herz schlagen. Thorsten dozierte neben ihm Lou-Reed-Songtexte. Tom nahm noch einen Zug. Auch für ihn war der Abend vorbei.
„Seid ihr immer noch in NewYork?“ hörte er Julia entfernt fragen. Doch es war Thorsten, mit dem sie sprach. Er antwortete etwas. Unten ging eine Stimme, „Laß ihn schlafen“, sagte Katja. Sie packte Ben ins Auto, zwei Türen schlugen, dann fuhr der nächste Wagen in die Nacht davon. Tom ließ die Beine vom Geländer baumeln.

„Ich muß mal pieseln“, sagte Julia in der Ferne. Sie ging zum Mittelplateau der Treppe. „Singt doch was“, bat sie.
Thorsten und Tom saßen stumm auf dem Geländer und sahen zu, wie die Lichter der Stadt vor ihren Augen atmeten. Tom konzentrierte sich auf die Geräusche, hörte Julia ihre Hose herunterstreifen. Nach einem Moment der totalen Stille plätscherte ein feiner Strahl auf das Treppenplateau des Schlosses. Tom stellte sich vor, wie unter ihr ein mattglänzender schwarzer Fleck entstand, nach allen Seiten hin wuchs, um endlich in kleinen Rinnsalen Stufe um Stufe hinabzufließen.

Es mußte eine ganze Weile vergangen sein, bis Tom spürte, wie Thorsten ihn von hinten leicht an der Schulter berührte.
„Komm, wir packen's auch.“
Julia war bereits gefahren und Thomas schlief fest in seinem Kofferraum.
„Ich fahr dich zur S-Bahn“, schlug Thorsten vor. Tom wußte, daß um diese Zeit nichts mehr fuhr, trotzdem stieg er in Laim aus. Als Thorsten außer Sichtweite war, machte sich Tom auf den Weg zurück Richtung Ausfallstraße. Die Bewegung half ihm, seinen Kopf durchzulüften.

Noch immer hatte er das liebliche Geräusch vom Treppenplateau im Ohr, als er einen Tropfen spürte. Er lief weiter. Es regnete nicht stark, aber nach einer Weile merkte er, wie seine Schultern und Oberschenkel naß wurden. Thomas lag sicher bereits in einer kleinen Pfütze. Der Regen würde nach und nach die Spuren der Nacht verwischen, alles würde in den Platz vor dem Schloß versickern, Bier und Blut, die Stimmen, verbrannte Jeansreste, Urin und Wachs, und zuletzt auch die Kippen und abgeschlagenen Flaschenhälse.
Tom war klatschnaß, als er an der großen Kreuzung angekommen war. Er stellte sich an den Straßenrand und streckte den Daumen in den warmen Sommerwind.

Epilog

Ben studierte Medizin, Katja fing in Norddeutschland Grundschulpädagogik an, Tom ging zur Bundeswehr, Thorsten machte eine Lehre zum Werbekaufmann, Thomas fuhr mit dem Motorrad ein paar Monate durch Oregon, Julia studierte Jura und Nina bekam ein Kind.  

Dieser Text von Michael Bruchner (geboren 1972 in München), entstand im Frühjahr 1994 – die Handlung spielt im Sommer 1991.

Michael Bruchner hat damals eine Reihe weiterer Texte geschrieben, die im Internetprojekt www.michaelbruchner.de im Jahre 2000 veröffentlicht wurden.

Michael Bruchner ist am 4. Juli 1995 verstorben.